Martin Parr / Magnum
Das Alter wird als Hinweis auf unsere Grundhaltung völlig überbewertet. Die populäre Generationenlehre ist eine Irrlehre.
Lea Hagmann
5 min
Neunzehnhundertfünfundneunzig geboren, falle ich zwischen Y und Z. Man ist sich deshalb nicht ganz so sicher, welcher Generationencharakter mir anzudichten ist. Manchmal gelte ich als verweichlichter Millennial, gleich wie alle, die bis zu 15 Jahre älter sind als ich. Andere sehen in mir eine politisierende Weltverbesserin. Sie zählen mich bereits zur Generation Z, die Geburten bis und mit 2010 umfasst. Je nachdem, wen man fragt, bin ich besessen von der Political Correctness oder so sehr an meinem eigenen Ego interessiert, dass mir das Gemeinwohl gleichgültig ist.
Über «die Jungen» wird viel geredet. An uns, der Generation Z und den Millennials, zerbricht sich die Welt den Kopf. Uns müsse verstehen, wer marktfähig bleiben will, heisst es. Generationenberater wie die beiden Mittezwanziger Yaël Meier und Jo Dietrich, die gemeinsam die Agentur Zeam gründeten, haben darin unlängst ein lukratives Geschäftsmodell entdeckt. Sie verkaufen Unternehmen unsere Hoffnungen und Ängste und verdienen damit gutes Geld.
In der Theorie geht die Generationenlehre so: Alle 15 Jahre wird eine neue Einheit ausgerufen, die eine Gruppe von Menschen umfasst, deren Jugend von denselben historischen Ereignissen geprägt wurde. Bei den Millennials wird häufig 9/11 genannt, während für die Generation Z die Fukushima-Katastrophe in Japan als politisch prägend angesehen wird. Die Logik geht zurück auf den Philosophen und Soziologen Karl Mannheim (1893–1947), der als einer der Urväter des Generationendenkens gilt.
Man kann sich fragen, ob Verhaltensmuster rein darüber begründet werden sollten, wann jemand geboren wurde.
Babyboomer, X, Y, Z. Die Namen klingen schon sehr gut, das muss man zugeben. Und gewiss lässt sich anhand von Jahrgängen manch eine Gemeinsamkeit festmachen. Es spielt eine Rolle, ob ich in den sechziger oder in den neunziger Jahren geboren bin. Wir wurden von unseren Eltern anders erzogen als sie von den ihren. Berufstätige Mütter und wickelnde Väter galten in meinem Umfeld schon nicht mehr als nennenswert. Geschlechter- und Rollenstereotype lösten sich im Verlauf unseres Erwachsenwerdens immer mehr auf, ebenso die Erzählung eines weiter steigenden Wohlstands.
Zu grossen Teilen wurde ich durch das Internet sozialisiert. Mein erstes Handy erhielt ich – sofern ich mich richtig erinnere – mit 10, das erste Smartphone besass ich ungefähr mit 15 Jahren. Oft wird Leuten wie mir deswegen ein Suchtverhalten nachgesagt. Weil die tägliche Nutzung irgendwelcher Apps für uns Normalität ist und wir uns an eine Zeit ohne Internet kaum noch erinnern können.
Selbst 80-Jährige bei Whatsapp
Man kann sich aber auch fragen, ob Verhaltensmuster rein darüber begründet werden sollten, wann jemand geboren wurde. Es sind nicht nur die Generationen Y und Z, die Fernsehserien streamen, keinen Festnetzanschluss mehr haben und ihren Kontosaldo auf dem Smartphone überprüfen. Selbst 80-Jährige verschicken ihre Feriengrüsse heute teilweise via Whatsapp und reichen Arztbelege neuerdings über die Versicherungs-App ein. Ich vermute einmal, dass auch sie nicht mehr auf ein Smartphone verzichten möchten.
Was ich damit sagen will, ist: Gesellschaftlicher Wandel berührt einen zum Glück auch noch nach dem Herauswachsen aus dem Teenageralter. Verhaltensweisen ändern sich mit dem technologischen Fortschritt. Die daraus resultierenden Bedürfnisse und Gewohnheiten haben nur wenig mit dem Geburtsjahr zu tun.
Es ist eine der Schwachstellen der Generationenanalyse. Der britische Sozialforscher und Autor Bobby Duffy erklärt sie so: Alterskohorten seien zwar ein wertvolles Werkzeug, um Veränderungen in Überzeugungen und Verhaltensweisen von Menschen zu erklären. Aber solche «Kohorteneffekte», wie er sie nennt, dürften nicht isoliert betrachtet werden. Zwei andere wichtige Analysegrössen seien einerseits, wie schon früher in der Generationenlehre festgestellt wurde, «Periodeneffekte» (das Erleben historischer Ereignisse), andererseits aber eben auch «Lebenszykluseffekte» (Wandel, der mit zunehmendem Alter und in neuen Lebenssituationen passiert).
Anhand dieser drei Faktoren hat Duffy in seinem neuesten Buch «The Generation Myth» verschiedene gesellschaftliche Phänomene untersucht, zum Beispiel «die sexuelle Rezession» oder «das Sterben der Ehe». Er gelangt dadurch zum Schluss, dass sich Menschen verschiedener Altersgruppen viel ähnlicher seien, als die heute gängige Rede uns glauben lasse.
Land oder Stadt, Kind oder allein
Die moderne Gesellschaft ist aufgeteilt in Mikroblasen. Wer sich in seiner eigenen umschaut, hätte längst selbst darauf kommen können: Als Distinktionsmerkmal ist das Alter von ziemlich geringer Bedeutung. Viel eher definiert sich ein Mensch darüber, was sein Beruf ist, ob er auf dem Land oder in der Stadt wohnt, ob er Kinder hat oder allein lebt. Mein gleichaltriger Cousin, dreifacher Familienvater und in Besitz eines Bauernhofs, hat wenig Verständnis übrig für meinen vegetarischen Lebensstil. Dafür liegt er nachts wach, wenn in der Schweiz wieder über neue Bio-Richtlinien diskutiert wird.
Er und ich, beide in der Mitte zwischen Millennial und Generation Z. Bei Volksabstimmungen heben sich unsere Stimmen fast immer gegenseitig auf. Die Frage nach Stadt oder Land überwiegt jene nach dem Jahrgang, erst recht, wenn es um existenzielle Fragen geht.
Vielleicht sollten wir also besser einmal über ökonomische Dimensionen sprechen.
Karl Mannheim hielt damals fest, dass bei Generationenanalysen die Schichtzugehörigkeit nicht ignoriert werden dürfe. Ob ein junger Mensch später einmal ein Haus besitzen möchte, hängt in der Regel weniger mit der Angst vor Sesshaftigkeit oder dem Erwachsenwerden zusammen als mit finanziellen Möglichkeiten. Auch Bobby Duffy schreibt, dass «Ressentiments, die Menschen gegenüber anderen Generationen hegen, mehr mit den wachsenden Ungleichheiten in den Bereichen Wirtschaft, Wohnen und Gesundheit zu tun haben». Vielleicht sollten wir also besser einmal über ökonomische Dimensionen sprechen.
Stattdessen verwenden wir unsere Energie auf einen emotional aufgeladenen Konflikt, konstruiert von den «Stimmen der Generation», die die Schubladisierung von Altersgruppen zu ihrem Markenzeichen gemacht haben und, beflügelt von den Medien, die weitverbreiteten Generationenklischees als dankbare Belege für ihre Thesen verwenden. Die Manie, Unterschiedlichkeiten immer den verschiedenen Generationen zuzuschreiben, führt nicht nur an der Realität vorbei, sie lenkt vor allem auch von den wesentlichen Fragen ab, die wir uns als Gesellschaft stellen sollten.
Es gehört zum Geist des Menschen, sich von anderen abgrenzen zu wollen, mittels Sprache, Weltansichten oder Auftreten. So wie nicht jeder Babyboomer ein Umweltsünder ist, sind auch nicht alle aus der Generation Z Klimaschützer. Weshalb das so oft vergessen geht? Man nennt es analoge Blasenbildung, die es schon weit länger gibt als Facebook.
Lea Hagmann vom «NZZ am Sonntag Magazin» schätzt an Familienfesten mit Tanten und Cousins vom Land die Konfrontation mit anderen Lebensrealitäten.
Passend zum Artikel
Andrea Bornhauser (Text), Joëlle Lehmann (Fotos)
14 min
Albert Steck
6 min